Kleine Geschichte der Konfektionsgröße

9. August 2022

Wer stimmt hier nicht: Unser Körper oder die Kleidergröße?

„Ich bin ja selbst Schuld, dass mir die Teile aus dem Geschäft nicht richtig passen.“
„Aha? Wieso?“
„Naja, ich hab Größe 46! Kein Wunder, dass mir nichts passt. Deshalb muss ich ja selbst nähen.“
„Meinst du nicht, dass das eher daran liegt, dass die Kleidung im Geschäft genormt ist und gar nicht jedem Körper passen kann?“

Das ist ein Originalgespräch beim Stoffkauf. Diese Kundin nähte ihre Kleidung selbst, weil sie einfach keine passende Kleidung finden konnte (und offenbar nicht in den richtigen Geschäften suchte) und gab sich selbst die Schuld daran. Das ging wahrscheinlich jeder Frau schon einmal so. Wir können partout keine passende Jeans finden, die Bluse spannt über der Brust und die Abnäher sitzen grundsätzlich an den falschen Stellen – unglaublich frustrierend! Und weil wir nicht alleine im Sonntagsspaziergang die Modeindustrie revolutionieren können, suchen wir die Schuld für schlecht sitzende Kleidung bei uns.

Dabei ist es doch eigentlich sehr unrealistisch anzunehmen, dass genormt produzierte Kleidung auf jeden Körper passt – wenn man es mal ganz pragmatisch und wertfrei betrachtet. Doch statt das einfach als „isso“ hinzunehmen, fühlen wir uns schlecht und geben uns selbst die Schuld. Danke an Mode- und Schönheitsindustrie, undurchsichtige Größenlables, strassige Nachmittage in stickigen Umkleidekabinen und schlecht sitzende Verzweiflungskäufe. Doch was soll eigentlich der ganze Zinnober um Zahlen und warum fühlen wir uns schlecht, wenn wir nicht einer erfundenen Norm entsprechen?


Kleine Geschichte der Konfektionsmode

Fangen wir vorne an: Gab es schon immer Konfektionsgrößen? Ganz kurz: Nein.

Historisch gesehen sind Konfektionsgrößen eine sehr junge Erfindung. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fand die Herstellung von Kleidung ausschließlich im familiären Umfeld oder durch die zuständigen Handwerker*innen (also die Maßschneider*innen und Näher*innen statt). Damit war es absolut normal, dass jedes Kleidungsstück auf den Körper der Trägerin oder des Trägers zugeschnitten wurde. Gerne mit reichlich Nahtzugabe, falls die Kleidung mal weitergegeben werden sollte und ein paar kleinere Änderungen nötig waren. Auch fertige Schnittmuster gab es zu dieser Zeit nicht. Das Wissen um die Konstruktion von Schnitten wurde innerhalb der Familie weitergegeben oder man folgte Anleitungen in den allumfassenden Haushaltsratgebern. Dabei waren die konkreten Körpermaße der auszustattenden Person entscheidend, Konfektionsgrößen gab es ja noch nicht. In fast jeder Anleitung waren zudem Tipps enthalten, wie ein Schnitt auf spezielle Körperformen der Träger*in angepasst werden konnte.

Erst mit Beginn der Frühindustrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts wurden neue, zeitsparende, und profitmaximierende Produktionsverfahren entwickelt, die zuvor individuelle Prozesse stark vereinheitlichten. In der Bekleidungsindustrie wurden etwa automatische Webstühle entwickelt – und die Konfektionsgrößen.

Doch selbst zu Beginn der Konfektionsgröße bis ins 20. Jahrhundert hinein war es unüblich, Kleidung einfach von der Stange zu kaufen und damit nach Hause zu gehen. In Bekleidungsgeschäften und Kaufhäusern waren Maßschneider*innen beschäftigt, die notwendige Anpassungen an den Kleidungsstücken vornahmen. Es wurde hier ein bisschen ausgelassen, dort ein bisschen eingenommen, gekürzt und enger genäht. Erst nach diesen Anpassungen war das Kleidungsstück fertig zum Tragen. Heute kennen wir das nur noch beim Kauf von Brautkleidern. Wer kein Geld für die Anpassungen im Modehaus hatte, machte dieselben Änderungen zu Hause. Die Menschen wussten, dass ein genormtes Kleidungsstück nicht auf jeden Körper passen kann und Anpassungen gehörten zum Kleiderkauf einfach dazu. Das zeigt sich auch in der Konstruktion der Kleidungsstücke. Schau dir einmal ein gekauftes Kleidungsstück aus den 60er Jahren an. Dir wird auffallen, dass die Nahtzugaben sehr viel großzügiger bemessen sind als bei modernen Kleidungsstücken. So war es überhaupt möglich, Konfektionskleidung auf ihre Träger*innen anzupassen. Oft erkennst du sogar die nachträglichen Änderungen, die von einer Änderungsschneider*in oder der Besitzer*in selbst vorgenommen wurden.

In den letzten Jahren haben gesellschaftliche, soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklungen dazu geführt, dass wir gekaufte Kleidung so tragen wollen (und sollen), wie sie auf der Stange hängt. Die Fähigkeiten, zu nähen haben in den letzten Jahrzehnten massiv abgenommen, wir haben immer weniger Zeit für Stunden an der Nähmaschine und sind wir ehrlich: Bei einem Fast-Fashion-Teil für 20 Euro, das in der nächsten Saison schon wieder aus der Mode ist, lohnt sich der Aufwand ja auch gar nicht. Letztlich sind die Konfektionsgrößen heute ein Teil der Ökonomisierung des Menschen. Die Menschen in einer industrialisierten Gesellschaft sollen sich der Industrie und ihren Prozessen anpassen, nicht umgekehrt. Also wird uns suggeriert, dass unsere Körper das Problem sind – nicht Mode von der Stange, die an ziemlich willkürlichen Modetrends und unrealistischen Körperbildern orientiert ist.


Was sind eigentlich Konfektionsgrößen?

Wikipedia definiert die Konfektion, im Gegensatz zur Maßschneiderei, als „industriell organisierte Produktion von Bekleidung in Serienfertigung, in vorher festgelegter Stückzahl sowie Größenreihe“. Wo es in der Maßschneiderei im Laufe des Herstellungsprozesses eine oder mehrere Anproben gibt und das fertige Stück wie angegossen passt, werden in der Konfektionsherstellung viele Kleidungsstücke nach den exakt selben Maßen produziert und so wie sie sind in die Geschäfte gehängt.

Dabei gibt es zwar theoretisch einen EU-Standard für Konfektionsgrößen, dieser ist für die Hersteller allerdings nicht verbindlich. So kommt es vor, dass eine Person drei unterschiedliche Konfektionsgrößen im Schrank hat – je nachdem, von welchem Hersteller die Stücke kommen. Auch international unterscheiden sich die Konfektionsgrößen teilweise erheblich: Die Menschen in Italien und Frankreich sind tendenziell kleiner und zierlicher als die Menschen in den Niederlanden oder in Skandinavien und die lokalen Hersteller passen ihre Größen entsprechend an. So ist eine Größe 36 in Schweden länger und breiter als dieselbe Größe in Frankreich.

Dazu kommt noch die Mode, die sich mindestens jährlich ändert und unterschiedliche Passformen und Stile propagiert: Im einen Jahr sollen die Jeand high waist sein, im nächsten wieder auf der Hüfte sitzen, mal sind die Kleider gerade geschnitten, mal ausgestellt.


Eine Größe für einen Menschen?

Aber selbst falls die EU-Normen bei allen Herstellern und in allen Ländern eingehalten würden, würde das den Kleiderkauf nicht plötzlich leichter machen. Denn sogar ein und derselbe Körper hat nicht nur eine Konfektionsgröße. Vermiss einmal deinen Körper und vergleiche deine Maße mit den Angaben in einer beliebigen Maßtabelle. Dir wird auffallen, dass du mindestens drei bis fünf unterschiedliche Konfektionsgrößen hast. In den Hüften eine 46, in der Taille eine 42, die Schultern 44, die Brust 48, die Armlänge eine 40 und die Beinlänge eine 44. Für das perfekt passende Kleidungsstück müssten sogar noch mehr Maße hinzukommen, die in der Konfektionsmode gar nicht berücksichtigt werden, z.B. Leibhöhe, Brusttiefe oder Oberschenkelumfang – um nur einige wenige zu nennen. Klar, wohin das führt?

Noch komplexer wird das ganze bei Plus-Size-Mode. Denn je größer die Kleidergröße, desto größer die Variation im Körpertyp. Nein, wir wollen damit nicht sagen, dass alle schlanken oder zierlichen Menschen gleich aussehen. Aber je fülliger eine Person ist, desto mehr Fülle kann sich auf ganz unterschiedliche Stellen des Körpers verteilen. So brauchen einige Menschen im Pluz-Size-Bereich viel Raum in den Schultern und im Rücken, andere am Bauch, wieder andere am Po und an den Hüften.


Ist selbernähen die Lösung?

Jein. Theoretisch könnte selbst nähen natürlich eine Lösung sein, denn es bietet dir viele Möglichkeiten der Abwandlung. Du kannst im ersten Schritt deinen Körper genau vermessen und schon das Schnittmuster entsprechend anpassen. Außerdem kannst du während des Nähens mehrere Anproben machen und schauen, wo noch Stoff fehlt und wo welcher zu viel ist. So kannst du dich nach und nach dem perfekt sitzenden Kleidungsstück nähern. Das Potential ist also da.

Allerdings bedeutet selbstgenäht nicht, dass das fertige Teil automatisch perfekt passt. Denn auch Schnittmuster sind genormt – das geht ja auch gar nicht anders. Ehrlicherweise müssen wir auch sagen, dass Schnittanpassung und Maßfertigung (denn das tust du ja, wenn du dein Kleidungsstück auf deinen Körper anpasst) ein recht zeitaufwendiger Prozess ist, der viel Know-How erfordert. Natürlich – wenn du einmal den perfekten Hosenschnitt für dich konstruiert hast, kannst du diesen genau wie jedes andere Schnittmuster immer wieder verwenden. Aber dahin zu kommen ist wahrscheinlich kein Projekt für einen einzigen verregneten Sonntagnachmittag.

Wir empfehlen dir, klein anzufangen. Eine gute Hilfe sind Bücher, die erklären, wie du Schnittmusteranpassungen vornimmst. Eine Empfehlung von uns: „Passt perfekt – Schnittmuster an die eigene Körperform anpassen“ von Meike Rensch-Bergner.


Das schmeichelt – das perfekte Kleidungsstück für deinen Körper?

Ganz ehrlich: Wir glauben an keine der Binsenweisheiten zum idealen Kleidungsstück für einen bestimmten Körpertyp – nicht zuletzt, weil diese gutgemeinten Tipps meist defizitorientiert sind. Es geht nämlich hauptsächlich darum, sogenannte Makel zu kaschieren – ein Vokabular, das wir in Bezug auf Körper nicht unterstützen wollen. Außerdem sind Ratschläge wie „Frauen mit stämmigeren Beinen sollten immer mindestens knielange Röcke tragen“ absolut unterkomplex. Ob dir Midi- oder Maxiröcke tatsächlich gut stehen, hängt von so viel mehr Faktoren ab: Wie groß du bist, wie lang deine Beine im Verhältnis zum Körper sind, aus welchem Stoff der Rock besteht, welches Muster er hat, wie du den Rock kombinierst … Aber vor allem davon, ob dir der Rock gut passt und du dich darin wohlfühlst.

Wir möchten an dieser Stelle nur einen Tipp geben: Keine Angst vor Passform! Die meisten Menschen, die etwas „kaschieren“ wollen, hüllen sich gerne mal in übergroße Kleidung ohne Passform, die letztlich einfach an allen Ecken und Enden zu groß ist. Wir finden: Gut passende Kleidung ist die Kleidung, die dir und deinem Körper am meisten schmeichelt. Beim Kauf entscheidet ja meist die breiteste oder längste Stelle am Körper, welche Größe ein Kleidungsstück haben soll. Wenn du zum Beispiel viel Brust und wenig Bauch hast und du deine Bluse nach der benötigten Brustweite aussuchst, wird sie dir unterhalb der Brust zu groß sein. Ein Gang zur Änderungsschneiderei oder eine Stunde an der Nähmaschine zu Hause wirken da Wunder. Es gibt schließlich keinen Grund, ein schlecht sitzendes Kleidungsstück hinzunehmen, nur weil es so im Geschäft verkauft wird.


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